Agates Weg zu den Olympischen Spielen

Die 23-jährige Agate Rašmane ist die erste Lettin, die das Land bei den Schießwettbewerben der Olympischen Spiele vertreten wird. Zwischen Europameisterschaft, der Verteidigung ihrer Bachelorarbeit und ihren eng getakteten Trainingseinheiten hat Agate Zeit für ein Gespräch mit uns gefunden.

Agate stammt aus Dobele, einer Kleinstadt mitten in Lettland, und belegt aktuell auf der Weltrangliste der International Shooting Sport Federation (ISSF) in der Pistolendisziplin den neunten Platz. Bei Olympia wird sie in den Disziplinen 10 m Luftpistole und 25 m Sportpistole antreten. Die von Vilnis Celmiņš trainierte Athletin ist jetzt schon unterwegs nach Japan.

Agate Rasmane interview with INTARSO

Der Traum von Olympia: Wie alles begann

Agate zufolge ebneten ihr eine Kombination aus Teamarbeit und Fleiß in den vergangenen Jahren den Weg zu Olympia. Das Ticket für die Spiele sei eher das Ergebnis harter Arbeit und weniger das von reinem Talent.

Schon in ihrer Jugend zeichnete sich ab, dass in Agate olympisches Potenzial steckt. Sie erzielte konstant gute Ergebnisse und erreichte bei Schießwettkämpfen regelmäßig die vorderen Platzierungen. Der Übergang von den Junioren zu den Erwachsenen sei dann auch deswegen schwierig gewesen, weil bei den Frauen ein extrem harter Wettbewerb herrsche: „Es ist schon eine Umstellung, wenn man es gewohnt ist, immer ganz oben auf dem Treppchen zu stehen“, erinnert sie sich. „Nach dem Wechsel ist das plötzlich nicht mehr der Fall. Darauf muss man sich emotional vorbereiten und darf den Glauben an sich selbst nicht verlieren.“

Agate qualifizierte sich im April 2021 für die Olympischen Spiele. Diese Qualifikation sei geplant gewesen und etwas, worauf sie unermüdlich hingearbeitet habe. „Vor vier Jahren haben mein Trainer Vilnis und ich uns angeschaut, wie der vierjährige Olympia-Zyklus funktioniert und was wir genau für die Qualifikation machen müssen“, erklärt Agate. „Natürlich war es allein mit der Entscheidung, dass wir zu den Olympischen Spielen wollen, nicht getan. Man braucht einen Plan und muss dann konsequent arbeiten, um diesen Plan umzusetzen.“

Auch wenn das Ziel der Olympia-Qualifikation klar war, verlief der Weg dahin letztlich etwas anders als vorgesehen. Aber in diesem Fall zählte nur das Ergebnis.

„2019 waren wir bei der Weltmeisterschaft in Brasilien, wo ich es ins Finale geschafft habe. In der Disziplin Luftpistole belegte ich dann den 5. Platz und konnte viele wichtige Weltranglistenpunkte sammeln“, erzählt Agate. „Als wir dieses Jahr zur Weltmeisterschaft nach Indien fuhren, war es wieder unser Ziel, einen guten Platz in der Disziplin Luftpistole zu erreichen, da ich zu diesem Zeitpunkt auf Platz 2 der Nachrückerliste für die Qualifikation stand und gewinnen musste, um die erforderlichen Punkte zu bekommen. Das war allerdings nicht so einfach, da meine stärkste Konkurrentin, eine Schützin aus Belarus, das bessere Händchen hatte und die nötigen Punkte bekam, um zu Olympia zu fahren.“

„Zu diesem Zeitpunkt lag ich in der Disziplin ‚25 m Sportpistole‘ auf Platz 9. Auf diese Disziplin hatten wir uns gar nicht so fokussiert wie auf 10 m Luftpistole. Aber in Indien schaffte ich es dann in dieser Disziplin ins Finale und wurde Vierte, und erhielt dann darüber die nötigen Punkte für die Olympia-Qualifikation.“

Agates Anfänge im Schießsport

Wenn man Agate fragt, wie sie zum Schießsport kam, verweist sie auf ihre Herkunft: „Der Ort, an dem ich geboren und aufgewachsen bin, hat da eine große Rolle gespielt.“ Schießen ist ein Sport mit einer langen Tradition, und das gilt in besonderem Maße für Agates Heimatstadt.

„Alles hat angefangen, als mein Bruder mich auf den Schießstand mitgenommen hat. Da war ich elf Jahre alt“, erinnert sich Agate. „Da habe ich gelernt, was Schießen eigentlich ist.“ Ungefähr zu dieser Zeit gründete ihr heutiger Coach Vilnis Celmiņš die erste Trainingsgruppe für Luftpistolenschießen, und in der Grundschule war es möglich, Schießen im Rahmen des normalen Schulsports zu belegen. Genau dafür entschied sich auch Agate, und so trainiert sie seit nunmehr zwölf Jahren unter Vilnis. „Man könnte also sagen, dass wir schon seit zwölf Jahren auf die Olympischen Spiele hinarbeiten“, erklärt sie mit einem Lächeln.

Intensiveres Training in der Vorbereitung auf die Olympischen Spiele

Normalerweise absolviert Agate pro Woche mindestens drei Trainingseinheiten von je zwei bis drei Stunden. Kurz vor Wettbewerben geht es dann fünfmal pro Woche auf den Schießstand. Zusätzlich gibt es Trainingscamps, bei denen zwei Einheiten pro Tag Pflicht sind. Jeden Abend stehen dann auch Fitnessübungen auf dem Programm.

„Im Herbst ist die Wettkampfsaison normalerweise vorbei. Das ist dann die Zeit, in der ich mich vermehrt auf meine körperliche Fitness konzentriere. Ich liebe Schwimmen und Radfahren“, erzählt Agate.

Emotionale Belastbarkeit und Konzentrationsfähigkeit: Voraussetzungen für Erfolg im Schießsport

Um ihre emotionale Belastbarkeit zu steigern, setzt Agate auf Radfahren: „Monotone Bewegungsabläufe über einen längeren Zeitraum helfen mir, an meiner Konzentrationsfähigkeit zu arbeiten und äußere Faktoren auszublenden“, erklärt sie. „Auch Geduldspiele wie der Rubik’s Cube sind eine einfache Möglichkeit, um Konzentration und ‚Um-die-Ecke-Denken‘ zu trainieren. Natürlich ist auch jedes Schießtraining eine Übung in emotionaler Belastbarkeit, da man auch da lernen muss, wie man mit seinen Gefühlen umgeht.“

Wir wollen von Agate wissen, ob sie vor Wettkämpfen ein besonderes Ritual hat. „Hmm ... Ich glaube, ich habe kein bewusstes Ritual. Aber mir ist zum Beispiel aufgefallen, dass das Handtuch auf der richtigen Seite liegen muss, wenn ich schieße. Wenn das nicht so ist, muss ich das erst richten“, erklärt sie. „Es ist mir wichtig, dass beim Schießen alles seine Ordnung hat und genau so ist, wie ich es gewohnt bin. Ich mag es beispielsweise, wenn der Bildschirm direkt vor mir steht. Aber das sind nur Kleinigkeiten und nichts, was mich wirklich aus der Fassung bringt.“

Und was ist mit dem Lampenfieber unmittelbar vor einem Wettbewerb? „Beim Probeschießen höre ich Musik“, erklärt Agate. „Ich habe keine spezielle Playlist oder irgendein besonderes Lied; ich höre einfach, was ich gerade verfügbar habe. An der Schießlinie mache ich dann normalerweise Atemübungen, um ruhig zu werden und mich besser zu konzentrieren und auch, um meine Augen zu entspannen.“

Auch abseits des Schießstands bestimmt der Sport ihr Leben

Vor Kurzem hat Agate ihr Sportstudium mit Schwerpunkt Schießausbildung abgeschlossen. Ihr war immer klar, dass sie Pädagogik studieren wollte – die Entscheidung, Sportlehrerin zu werden, war also naheliegend. Inzwischen arbeitet Agate schon im zweiten Jahr als Schießtrainerin in der Sportschule von Dobele, wo sie die Jugendlichen betreut.

Doch auch in anderer Hinsicht beeinflusst der Sport Agates Alltag. Beim Schießen muss man an mehrere Sachen gleichzeitig denken und die Außenwelt komplett ausblenden können, um sich auf die Aufgabe zu konzentrieren. „Ich würde sagen, dass das Schießen mir hilft, mich in schwierigen oder komplexen Situationen souverän zu verhalten“, so Agate. „Im Wettbewerb muss ich mich vor jedem Schuss neu konzentrieren. Das gibt mir definitiv Selbstvertrauen.“ Gleichzeitig lerne man dabei, sich für Fehler keine unnötigen Vorwürfe zu machen, sondern sie stattdessen anzunehmen und daraus zu lernen.

Auf die Frage, wie sich Gewinnen anfühlt, erklärt Agate, dass jeder Wettkampf eine neue Herausforderung sei. „Das Gefühl, wenn man es geschafft hat, und das Wissen, dass alles von einem selbst und den eigenen Fähigkeiten abhängt – dass ich also selbst für meine Ergebnisse verantwortlich bin –, ist großartig. Man hat das Gefühl, dass man dem eigenen Leben eine Richtung gibt und die Kontrolle hat. Das ist einfach Wahnsinn, wenn man sich das bewusst macht“, erklärt sie.

Zu ihren sportlichen Vorbildern zählt Agate unter anderem die Polin Klaudia Breś und deren Teamkolleginnen. „Diese Mädels sind drei oder vier Jahre älter als ich. Ich weiß noch, wie ich als Juniorin ihre Leistungen bewundert habe. Und dann ist da noch die ukrainische Schützin Olena Kostevych, die zur Generation vor mir gehört und schon bei den Olympischen Spielen dabei war. Sie ist eine Top-Athletin und definitiv eine Person, von der ich noch eine Menge lernen kann.“

Und was kommt nach Olympia?

„Ich habe immer noch diese ‚Wow‘-Momente, wenn mir wieder einfällt, dass ich wirklich zu den Olympischen Spielen fahre“, erzählt Agate lächelnd. Die letzten Olympischen Spiele verbrachte sie vor dem Fernseher und konnte nur aus der Entfernung mit den Athleten mitfiebern – dieses Mal ist sie mittendrin. „Es ist fantastisch, dass ich es hierhin geschafft habe. Mein Ziel ist es, mich weiterzuentwickeln, weiter zu trainieren, bessere Ergebnisse zu erzielen und mich auch für die nächsten Olympischen Spiele zu qualifizieren. Das ist erst der Beginn meiner Reise.“